Geistige Onanie


Heute möchte ich über Literatur sprechen. Ich denke Literatur, ständig, warum nicht darüber schreiben. Ich meine nicht, Literatur zu produzieren, sondern über sie zu schreiben. Was bedeutet mir Literatur? Ich will hier jetzt keinen literaturwissenschaftlichen Sermon halten – das haben andere vor mir schon zur Genüge gemacht. Das langweilt mich. Überhaupt bin ich schnell gelangweilt von allem und jedem. Wieso, weiß ich nicht. Vielleicht, weil das Leben wesentlich banaler ist, als wir denken. Klar, es wirkt komplex, in all seinen Facetten. Aber am Ende des Tages ist es simpel: schlafen, fressen, trinken, ficken. Alles andere ist nur Drumherum, Geplänkel, ein Versuch, sich vorzumachen, dass wir uns durch Kultur vom Tier unterscheiden. In der Regel funktioniert das. Sonst würden alle wie ich in ihre Sonntagsdepression verfallen. Das will niemand. Und Literatur ist ja auch Kultur.

Das bringt uns zurück zur Literatur. Wer mich kennt, weiß, dass ich kein großer Fan von Sachliteratur bin. Dieses ganze „Ich-erklär-euch-jetzt-mal-die-Welt“-Gedöns geht mir sowas von auf die metaphorischen Nüsse, ich kann es nicht mehr hören. Wieso muss ich den ganzen Tag lang Texte lesen, die mir faktenmäßig erklären, was um uns herum passiert? Where’s the poetry in that?

Nicht, dass ich Gedichte lesen würde – die mag ich auch nicht besonders! Da wird oft (nicht immer!) nur aus einer bescheuerten Liebe zum Wort in ultrakomplexen Wursteleien geistige Onanie praktiziert. Ich mag auch keine Unterhaltungsromane, Lustiges oder Spannendes, zum Ablenken – Kotz! Weil das Leben so scheiße ist, muss ich mich noch mit der Kackscheiße ablenken? Nee Leute, jetzt echt jetzt. Hab ick keen Bock drauf.

Wenn möglich, lese ich ausschließlich Erzählliteratur: kein Genre, weder Thriller, noch Krimis, Fantasy oder sonst irgendwas in die Richtung. Höchstens mal Science-Fiction, aber dann auch nur, wenn’s literarisch was taugt, wie George Orwell oder Ray Bradbury. Ich bevorzuge Zeilen, die erfundene Geschichten menschlichen Zwischenlebens wiedergeben. Geschichten, in denen wir Dinge wiedererkennen, die um uns herum geschehen, ohne dass man sie uns oberlehrerhaft erklärt. Und weil die Leute so doof sind, solche Geschichten nicht zu lesen, zu schätzen, sie nicht wie ich zu inhalieren, scheinbar nicht zu brauchen, kann ich mit ihnen nichts anfangen. Deswegen langweilt mich alles und jeder und jede.

Wenn ich eine gute Zeile lese, bin ich eine Zeitlang aufgewühlt. D. H. Lawrence schrieb: Cursed are the falsely meek, for they are inheriting the earth.“ Als ich die Worte las, blieben sie den ganzen Tag über bei mir, ließen mich über ihre Bedeutung nachdenken. In solchen Momenten frage ich mich: Wie relevant sind diese Worte für mich? Wo schneidet sich das mit meinem Leben? Oder ist das Interesse rein intellektuell?

Ich las neulich die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen. Sie schrieb an einer Stelle:

Und mir wird immer stärker bewusst, dass ich zu nichts anderem tauge und von nichts anderem leidenschaftlich erfüllt werde, als Worte aneinanderzureihen, Sätze zu bilden und einfache, vierzeilige Verse zu schreiben. Um das zu können, muss ich die Menschen auf eine ganz bestimmte Weise beobachten, in etwa so, als würde ich sie für den späteren Gebrauch in einem Archiv ablegen. Um das zu können, muss ich auf eine ganz bestimmte Weise lesen, indem ich mit allen Poren aufnehme, was ich in irgendeiner vagen Form weiterverwenden kann; wenn nicht sofort, dann bei späterer Gelegenheit. Um das zu können, darf ich nicht zu viele Beziehungen zu anderen Menschen pflegen, nicht oft ausgehen und nichts Hochprozentiges trinken, denn dann kann ich am nächsten Tag nicht arbeiten. Und weil ich ständig in Gedanken Sätze bilde, bin ich oft fern und abgelenkt…”

Das berührt mich, kann es nachvollziehen – ich kann mich mit dem Gedanken identifizieren. Und ich finde es unglaublich mutig von ihr, ihn zu denken und so treffend in Worte zu fassen.

Lese ich bei Mieko Kawakami Sollte man nicht zuerst an die Kinder denken? Die Geburt eines Kindes ist nicht das Ziel, sondern der Anfang des Lebens dieses Kindes.” – dann regt mich das gesellschaftlich an, das Thema Kinderkriegen zu überdenken. Für mich persönlich hat das jedoch keine Relevanz mehr, weil ich als Erzeuger nicht mehr in Frage komme. Dennoch finde ich den Gedanken legitim und die Frage richtig und wertvoll.

Ich habe nicht mehr viel Zeit, will den Rest mit Schönem verbringen. Es muss nicht immer philosophischen Tiefgang haben. Ich mag einfache Dinge, aber dann schön, lecker oder bewegend. Wenn ich Fußball gucke, ist es keine billige Ablenkung. Ich bin kein Fan, verfolge keinen Verein. Untere Ligen interessieren mich nicht, weil das Niveau zu niedrig ist. Aber auf hohem Niveau ist es eine geniale Mischung aus Ästhetik und Magie: Rasenballett der größten Zauberkünstler. Und für mich eine Form der Meditation.

Missgünstig und voll Neid,
the sunshine bright while I’m inside (No, this is not a poem!)

Victor Reich-Ranicki


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