Verzögerte Realität
Wie so oft beginne ich meinen Blog mit gestern. Das ergibt Sinn, weil ich euch von dem erzählen möchte, was mich gerade beschäftigt auf meiner Reise zum Tod. So auch heute wieder. Vielleicht könnt ihr speziell an diesem Eintrag sehen, wie es in mir in Wellen auf und ab geht. Fast wie bipolar. Wenn ich wüsste, wie sich das anfühlt.
Anyway, gestern … hatte ich einen sehr produktiven Tag. Produktiv heißt für mich: aufstehen, ein wenig lesen – zurzeit Heaven von Mieko Kawakami, das mir bisher gefällt! – dann essen, um meine Medikamente zu nehmen. Ein neues ist mittlerweile dazugekommen (Rosuvastatin Vivanta 20mg) – gegen zu hohe Cholesterinwerte. Die entstehen wiederum durch die Wunderpille, die mir überhaupt ermöglicht zu überleben. Natürlich habe ich sofort eingewandt, dass ich meine Ernährung fettfreier und insgesamt gesünder gestalten könnte, um das Medikament zu vermeiden. Aber meine Onkologin sagte, das Risiko sei zu hoch. Höchstwahrscheinlich könne ich noch so gesund essen, und die Werte wären trotzdem hoch – schließlich käme es von der Wunderpille. Außerdem wolle ich ja auch das Leben ein wenig genießen, nicht auf jede Kalorie achten! Und ich kann ihr nur zustimmen.
Nach den Medikamenten habe ich geschrieben – nicht besonders gut. Morgens kommt oft nichts Gescheites raus, sodass ich es am Nachmittag meistens wieder lösche oder zumindest so lange überarbeite, bis es passt. Dann fuhr ich zur Buchbox, um eine Bestellung abzuholen. There There von Tommy Orange – eines der besten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ganz großes Tennis! Ich habe es besorgt, um es meinem Kumpel zum Geburtstag zu schenken. Danach habe ich alle Unterlagen für den verdammten Bürgergeldantrag zusammengesucht und mich endlich auf den Weg gemacht.
Auf dem Geburtstag fühlte ich mich grundsätzlich wohl. Ich blieb nicht besonders lange, was auch so geplant war. Die Gruppe war überschaubar, die meisten kannte ich. Die Hälfte wusste von meiner Krankheit. Ich wollte das nicht thematisieren, immerhin ist es ein Downer, den keiner auf einer fröhlichen Feier braucht. Dann kam ein neues Pärchen, sehr sympathisch. Wir unterhielten uns und ein spannendes Gespräch enstand, das bis zum Abschied anhielt. Die restlichen Gäste gingen mehr oder weniger gleichzeitig. Mit zwei anderen fuhr ich vom Hermannplatz mit den Öffis nach Hause.
Bis dahin alles okay, könnte man meinen. Und im Grunde war es das auch. Und doch ist gar nichts okay. Spätestens zuhause bricht nämlich alles zusammen.
Ich kann für eine Weile teilhaben am „normalen“ Leben, mich unterhalten über Dinge, die mich einst auch betrafen, die mich aber heute, streng genommen, nicht mehr wirklich tangieren. Der fundamentale Unterschied – der Elefant im Raum – bleibt: die fehlende Zukunft.
Diese Dynamik ist eine völlig andere. Man kann sie kurzzeitig überbrücken, ausblenden, um den Abend nicht zu belasten oder die Gegenwart zu genießen. Aber sobald ich alleine bin, stürzt alles wie ein Kartenhaus über mir zusammen.
Heute wurde mir das wieder klar, als ich mit einem Freund Textnachrichten hin- und herschrieb. Ich schrieb, dass es mir ganz okay gehe – nur dass ich mittlerweile eine Wampe habe. Seine Reaktion war, wie die von allen: „Na, wenn’s nur das ist. Gibt Schlimmeres.“
Aber gibt es das wirklich?
Es ist wie mit meiner Stirn und meiner Nase, übersät mit Pickeln. Ein Fünfzigjähriger mit der Aknehaut eines Teenagers – aber mit der Lebenserwartung eines Achtzigjährigen. Ich sehe mich im Spiegel, sehe, wie mir die Tränen die Wangen hinablaufen. Mein Bauch bläht sich manchmal so auf, dass ich mit Atemnot dasitze. Ich habe richtige Titten bekommen. Auf meinem Rücken unzählige Pusteln, so viele, dass ich nicht mal mehr in die Sauna gehen würde.
Und wenn ich an so einem Abend unter Menschen bin, schäme ich mich in Grund und Boden, obwohl ich weiß, dass ich nichts dafür kann.
Aber ich bin einfach nicht mehr der, der ich mal war. Der Tod bestimmt heute mein Leben.
Gute Nacht! (no poetry left in me!)
Victor Mancini
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