Die unrunde Runde


Gestern war ich bei der ersten Selbsthilfegruppensitzung meines Lebens. Vielleicht auch meiner letzten. Ich merkte sofort: meine Vorstellung von Selbsthilfegruppen war durch und durch verklärt. Ich habe einfach zu viele amerikanische Filme und Serien gesehen, denke ich. Ich hatte das Bild von im Kreis sitzenden Leuten vor Augen, die sich das Herz ausschütten, egal weswegen. Ob wegen Alkoholsucht, Aggressionsbewältigung oder multipler Sklerose für Familienangehörige – ich dachte, man erzählt seine Geschichte, bekommt Mitgefühl, Verständnis – und im besten Fall einen brauchbaren Tipp. Oder wenigstens ein bisschen Solidarität für den Heimweg. 

Gestern saßen wir auch in einer Art langgezogenem Kreis. Am Bundesplatz in Charlottenburg. Knapp fünfzehn Leute, alle ohne Weiteres zwei Jahrzehnte älter als ich. Aber gut, dafür kann ja keiner was. Vielleicht lag’s trotzdem daran. Die Gruppe störte sich irgendwie an meiner Anwesenheit. Hätte mir ja egal sein können. War’s anfangs auch. Vielleicht dachten sie, ich sei zum Slumming da, um mich an ihrem Elend zu laben, ohne eigentlich krank zu sein?! Ich werde es nicht herausbekommen. In den Kreis jedenfalls wurde ich nicht bereitwillig aufgenommen.

Also, was haben sie gemacht und wie haben sie mich nicht aufgenommen, fragt sich jetzt bestimmt so mancher? Sie haben allesamt nur von ihrem physischen Leid im Zusammenhang mit ihrer medizinischen Versorgung gesprochen. Beispiel:

„Ick hab jetzt das Tagrisso abjesetzt. Endlich nach vier Jahrn.“
„Iwo, und wat nimmste jetze?“
„Na, erstmal jar nischt. Mach nur noch Bestrahlung. Dafür fünf Mal de Woche. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag.“
„Am Donnerstag hab ick CT. Da is mir jetzt schon janz bange vor.“
„Dit hab ick och imma so nen Schiss vor.“
„Und bei dir?“
„Ick kriech jetzt so ne Ladung Chemo. Dabei jibt et 100mg Kortison. Hab trotzdem 8 Kilo abjenommen, von wegen mit Kortison wird man dick und so.“

In einer Tour ging das so, und das meiste tatsächlich im Berliner Dialekt. Mein Bauch fing an zu schmerzen, und die Schmerzen wurden immer schlimmer. Ich verstand nicht ganz, wieso. Lag es an den Leuten selbst? An ihrem Leid? An den endlosen Gesprächen über Therapieformen? Oder war es die Tatsache, dass fast alle hier seit Jahren mit dem Krebs lebten, während man mir neulich noch gesagt hatte, dass man in der Regel nach einem Jahr hopps geht? Ich weiß es nicht. Aber mein Bauch randalierte.

Zwei der Organisatorinnen des sogenannten Survivor’s Home, wo das Ganze stattfand – das heißt tatsächlich so! – saßen auch dabei und waren, muss man fairerweise zugeben, sehr nett und hilfsbereit. Eine davon muss mir das angesehen haben und mit mir den Raum verlassen. In der Küche saßen wir dann für zwanzig Minuten und sprachen über meine Situation. Sie arbeitet auch für Vivantes, aber für viele verschiedene Leute, wenn ich ihre Aufgabe richtig verstanden habe. Jedenfalls beruhigte sie mich und gab mir Kontakte zu verschiedenen onkologischen Zentren. Denn ihrer Meinung nach sind meine vielleicht gute Leute vom Fach, aber nicht besonders empathisch und nehmen sich nicht die Zeit für mich und meine Belange. Ich könne jederzeit auch beide Hilfen in Anspruch nehmen, so der Tenor: Also die meiner Onkologinnen im Vivantes Klinikum im Friedrichshain und parallel dazu die der „hilfsbereiten“ mit mehr Zeit im Gepäck. Somit war die Gruppe für’n Arsch, aber ich bin doch mit drei großen Erkenntnissen von dem Abend nach Hause gekommen:

1. Vertraue niemals einer Onkologin allein. Wenn sie dir sagt, du stirbst in drei Jahren, dann heißt das gar nichts. In der Gruppe war ne olle Schachtel, die hat die Zellenseuche seit zehn Jahren und sabbert immer noch. 

2. Ich habe nun nützliche Kontakte, die mir weiterhelfen können. Auch inmitten von Abweisenden gibt es nette Leute, die einem helfen wollen. 

3. Der Berliner Dialekt gefällt mir auch nach sechzehn Jahren immer noch nicht. 

Ich wünsche den Alten trotzdem ein langes Leben.

Ansonsten gilt Support-my-ass-group 

Victor Flipini

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